Das Ergebnis der Bundestagswahl steckt den Verlierer*innen – darunter auch der Partei DIE LINKE – noch in den Knochen. Doch bereits wenige Stunden nach Schließen der Wahllokale passiert das Übliche: Man erzählt das Übliche. Dabei wäre es endlich mal an der Zeit, sich vor Auswertung der Wahlen auf ein paar methodisch-kulturelle Grundstandards zu einigen, bevor man Argumente, Zahlen oder schlechtestenfalls auch Sticheleien oder Schuldzuweisungen durchs Netz jagt. Hier einige Vorschläge.
10 methodische Standards für eine Wahlauswertung
1. Keine Message ohne Praxis-Bezug!
Nach Wahlen hört man nicht selten das gleiche: Man müsse jetzt dies, man müsse (wieder) mehr und man solle sich konzentrieren auf. Oft fehlt es aber schon bei der Problembeschreibung an der Unterlegung der Aussage. Ist die These, man habe sich zu sehr auf Thema X fokussiert, wäre es angemessen, das auch anhand der politischen Praxis zu belegen. Haben etwa die Hälfte der Veranstaltungen zu Thema X stattgefunden? Oder drehten sich zwei Drittel der Pressemitteilungen um X? Haben vielleicht die Abgeordneten ein Viertel ihrer Anfragen zu X gestellt? Wenn es wirklich zu viel X (oder auch zu wenig Y) gab, sollte man das belegen.
Einen konkreten Praxisbezug sollten auch formulierte Vorhaben vorweisen. Mehr Präsenz in X zeigen, wieder mehr mit den Menschen reden, die Verankerung in Z vertiefen, mehr Sichtbarkeit erzeugen etc. pp. sind formulierbare Ansprüche, die man nicht nur nach verlorenen Wahlen hört. Nur: Wenn es mutmaßlich nicht daran liegt, dass die eigenen Funktionär*innen oder Mitglieder in den letzten Jahren alle einen akuten Anfall von Schüchternheit bekommen haben und deshalb zu wenig mit den Menschen geredet haben, braucht es Abseits vom appellierenden wir müssen mehr auch hier konkrete Umsetzungsvorschläge.
2. Versuche, deine eigenen Thesen zu widerlegen!
Es gibt zu viele Einzelfälle- oder Erlebnisse, oft sogar quantitative Daten, als dass es nicht möglich wäre, für jede eigene These irgendwo einen halbgaren Beleg aus dem Hut zu zaubern: „Das habe ich am Infostand sehr oft gehört“ dürfte jede*r kennen, die/der Parteimitglied ist.
Der Erkenntnisgewinn ist allerdings meist höher, wenn man nicht durch die Welt zieht und ausschließlich nach dem Ausschau hält, was die eigenen Thesen belegt, sondern sich aktiv auf die Suche nach dem Gegenteil macht. Aktives Zweifeln würde ich das nennen.
3. Eigene Anschauung: Kenn dein Limit!
Unsere Kontakte (mit Menschen, Orten, Büchern, Artikeln etc.) sind meist sehr beschränkt aber prägen unseren Blick auf die Welt. Das ist weder wild noch neu, aber man sollte sich dieser Limitiertheit des eigenen Blicks auf Gesellschaft und Debatten bewusst sein. Wie alt sind die Menschen, mit denen man den meisten Austausch hat, aber wie viele Menschen sind 30 Jahre älter als ich – oder jünger? Wie viele Einwohner*innen hat der Ort in dem ich lebe und wie viele Menschen leben in deutlich kleineren Orten? Hängen meine Großeltern bei Twitter ab oder in der Leserbriefspalte der Lokalzeitung? Wie viele Leute, die ich kenne, haben einen ähnlichen Bildungsabschluss wie ich – und wie hoch ist deren Anteil in der Bevölkerung? Sich dann und wann diese oder ähnliche Fragen zu stellen kann nicht schaden.
4. Aussagen über Daten ohne Daten ist wie Reiten ohne Pferd (nämlich sinnlos)
Bestimmte Erzählungen setzen sich schnell fest, auch wenn sie so vielleicht gar nicht stimmen. Das kann ganz verschiedene Gründe haben. Einfachstes Beispiel ist das Abschneiden der AfD bei der Bundestagswahl in Sachsen: Die hat zwar einerseits 2,5 Prozentpunkte im Vergleich zu 2017 verloren, gleichzeitig aber (auch aufgrund der Schwäche der Union) erstens mehr Direktmandate gewonnen und zweitens den Abstand zur zweitplatzierten Partei vergrößert. Sowohl die Wahlkreiskarte (mehr Blau) als auch das Balkendiagramm der Zweitstimmen (blauer Balken zwar kleiner aber relativ größer zur zweitstärksten Partei) vermitteln optisch aber den Eindruck von (größerer) Stärke (als 2017). (Dazu gab es bereits vorab diesen kleinen Twitter-Thread)
Ein weiterer Aspekt bei dem ein genauer Blick lohnt sind die Wähler*innenwanderungen von DIE LINKE zur AfD. Diese hat es zweifelsfrei gegeben. Gerade bei einigen Landtagswahlen im Osten wirkten die Wanderungen von DIE LINKE nach ganz rechts außen nicht unerheblich – was zum Teil aber auch daran lag, dass DIE LINKE eine ganze Zeit lang viele Wähler*innen hatte – und damit auch viele verlieren konnte. Das kulminierte teilweise in (später korrigierten) Aussagen, dass DIE LINKE „sie so viele Wähler wie keine andere Partei an die Rechtspopulisten verloren“ habe. Schaut man sich die Wählerwanderungen der Bundestagswahlen ab 2013 wird man sehen, dass es diese Wanderungen gab, sie durchaus auch bedeutsam waren (und alles andere als erfreulich) aber die einzelnen Wahlniederlagen eben nur zu einem Teil erklären können:
Unstrittig ist dabei, dass es natürlich auch indirekte Wanderungen gegeben haben wird: Über den Umweg anderer Parteien oder - eventuell durchaus relevanter - über den Umweg der Nichtwähler*innen.
Bei den Landtagswahlen im Osten wählten 2014 übrigens ca. 4 bis 5,5 % der Vorwahlwähler*innen von DIE LINKE dann die AfD (SN, BRB, TH), 2016 12 bis etwa 13 % (LSA, MV) und 2019 6,5 bis 13 % (BRB, TH, SN).
Es hilft also, zur richtigen Bewertung nicht einer Wanderungs-Erzählung zu vertrauen, sondern sich die vorliegenden Wanderungs-Daten anzuschauen.
5. Denken in langen Zeiträumen
Anknüpfend an den vorherigen Punkt lohnt es sich, auch langfristige Entwicklungen anzuschauen. Viele Wahlauswertungen greifen auf die unmittelbaren Erfahrungen und Debatten in zeitlicher Nähe zurück. Auch wenn es unstrittig ist, dass Wahlkämpfe und Vorwahldebatten eine eigene Dynamik haben und das Wahlergebnis beeinflussen sind sie doch nur das Geschehen an der Wasseroberfläche - und damit nicht selten auch Ausdruck von tektonischen Verschiebungen innerhalb der Gesellschaft, die wesentlich länger anhalten. Auch wenn also (siehe vorheriger Punkt) die Abwanderung zur AfD bei der Bundestagswahl 2021 nur einen sehr kleinen Teil der Brutto- und Nettoverluste ausmacht, bedeutet dies nicht, dass diese Wanderungen über einen längeren Zeitraum gleichfalls unbedeutend seien. Und: Wähler*innen, die eine Partei bereits vorher (an wen auch immer) verloren hat fehlen später numerisch nicht weniger, als Wähler*innen, die man von der unmittelbar vorausgehenden Wahl verloren hat.
Die langfristige Umstrukturierung unseres Elektorats dürfte auch an anderen Stellen eine Rolle spielen: Gerade im Osten ist der demografische Faktor für die Entwicklung der Mitgliedschaft und der Wähler*innen nicht unbedeutend: Der demografische Verlust (Wegzug + verstorben) lag bei den Landtagswahlen Landtagswahlen im Osten der Jahre 1999 bis 2019 in den Bundesländern durchschnittlich bei je 11 bis 15 %.
Auch bestimmte gesellschaftliche Probleme oder Konfliktlagen und deren Dominanz in politischen Debatten verschieben sich teils über lange Zeiträume und sind damit gleichsam tektonische Verschiebungen, die an der Wasseroberfläche ihre Spuren hinterlassen.
6. Konsistent argumentieren: Entweder A gilt - oder es gilt halt nicht.
Argumente dürfen nicht beliebig sein. Wer bestimmten Entscheidungen oder bestimmten Personen in einem Bundesland einen negativen (oder positiven) Einfluss auf das Wahlergebnis zuschreibt, kann einen Einfluss gleicher Art in einem anderen Bundesland nicht ohne fundierte Argumente einfach negieren (oder: unerwähnt lassen).
7. Spezifik oder Trend?
Bei Wahlen werden positive Abweichungen vom (ggf. negativen) bundes- oder landesweiten Trend gerne betont. Allerdings ist stets zu prüfen, ob die Einzelabweichung vom (großen) Trend nicht möglicherweise einem Untertrend entspricht. Ich kann mich an einige Diskussionsbeiträge nach der Bundestagswahl 2017 erinnern. Bei dieser hat DIE LINKE vor allem im Osten an Boden verloren - in Leipzig allerdings deutlich weniger stark, als insgesamt in Sachsen. Das war für einige Grund genug, den eigenen Stadtverband zu feiern. Zwar hatte der, entgegen dem sächsischen Trend (der eigentlich ein ostdeutscher Trend war) weniger verloren, aber gleichzeitig hatte er verloren - was in westdeutschen Großstädten nicht der Fall war. Das ist ein schönes Beispiel dafür, wie zwei Trends (Verluste im Osten, Zugewinne in den Großstädten) in einem bestimmten Ort gegeneinander wirken - was in Leipzig (einerseits ostdeutsch, andererseits Großstadt) der Fall war. Hier nochmal die Daten dazu:
Es lag also keine pauschale Leipzig-Spezifik vor, sondern zwei gegenläufige Trends sind in Leipzig (und nach oberflächlichem Blick auch in Dresden) zusammengelaufen.
8. Reden & Klappe halten
In so mancher Auseinandersetzung dominieren Reizworte, gereizte Reaktionen auf diese und so manch eine*r Genoss*in ist für die/den eine*n oder andere*n eine Reizfigur. Das wird sich in großen Organisationen (zumal mit direkter, interner Wahlkonkurrenz) auch nie ganz beheben lassen, aber vielleicht ist der Versuch der Abrüstung an einigen Stellen durchaus einen Versuch wert. Mehr mit den Menschen reden kann ja auch einfach heißen, erstmal im kleinen Kreis anzufangen.
Das gelingt von Angesicht zu Angesicht übrigens meist deutlich besser als digital. Dort, wo die Zeichenzahl begrenzt ist (in der Kürze liegt nicht nur die Würze sondern oft auch die Schärfe der Debatte) und das mitlesende Publikum unterhalten werden will, spricht man eben doch eher wie auf einer Bühne übereinander als miteinander. Die große Social Media Kunst im Jahr 2021 ist es, auch mal die Klappe halten zu können. (Ja, ich hab mich auch hart zusammenreißen müssen)
9. Kampfeinsätze gescheitert
Die meisten "Kampfeinsätze" innerhalb unserer Partei in den letzten Jahren liefen ähnlich gut wie seinerzeit der Afghanistan-Einsatz: Sie haben sich lange hingezogen, es gab keine klaren Sieger aber dafür eine Menge Verletzte. Daran ändert auch ein noch so gut begründeter oder moralisch gerechtfertigter Einsatzzweck nichts - das muss man, egal wie man es findet und auf welcher Seite der Barrikade man stand, einfach zu Kenntnis nehmen.
10. Wahlkampf ist nicht gleich Wahlergebnis
Wenn echte Ursachenforschung mit Blick auf das Wahlergebnis stattfinden soll, sollte die Auswertung der Wahl und des Wahlkampfs nicht zu eng miteinander verknüpft werden. Der klassische Wahlkampf dürfte zwar durchaus eine Rolle spielen, aber gerade DIE LINKE dürfte wissen, dass es gesellschaftlich relevantere Faktoren gibt als Plakatlayout, verspätete Flyer-Lieferungen oder Rechtschreibfehler auf Sharepics.
Das heißt keineswegs, dass der Wahlkampf nicht ausgewertet werden soll. Das sollte er stets und zwar so kritisch wie möglich (übrigens unabhängig vom Wahlausgang). Wer die Ursache des kollektiven Problems, das DIE LINKE nun nicht erst seit dem 26. September 2021 hat, aber im Wahlkampf sucht, wird vermutlich nicht fündig werden.
Alle Daten ohne Quellenangabe: eigene Berechnung auf Grundlage der (teils vorläufigen) Daten des Bundeswahlleiters, der Gemeinden sowie Erhebungen von Infratest dimap.